南ドイツ新聞学芸欄 1999年7月12日、14頁
Süddeutsche Zeitung FEUILLETON Montag, 12. Juli 1999, S. 14
Entbräunungs-Serenade
Ein deutsches Modell für die Vergangenheitsbewältigung in Japan?
In diesem Land wird man nur mit Mühe nachvollziehen, was sich im comicsüchtigen Japan derzeit abspielt. Nicht die Rede eines Dichters, sondern ein Comic löste dort hitzige Diskussionen über die eigene Vergangenheit aus. Yosinori Kobayashis “Senso-ron” (“Abhandlungen über den Krieg”), ein Comic, der sich auf 380 Seiten mit dem Zweiten Weltkrieg in japanischer Sicht befaßt, wurde zum Bestseller. Kobayashi handelt alle einschlägigen Aspekte ab, von den Greueltaten japanischer Soldaten bis zur Kriegsschuldfrage, und gibt sich dabei unverblümt nationalistisch. Die zur Prostitution gezwungene “Trostfrauen” etwa seien durchweg Professionelle gewesen. Mit Hinweisen auf solche, im Einzelfall tatsächlich belegte Fälle, glaubt er, allgemein die Ehre der japanischen Nation retten zu können. Das gleiche Auslassungsprinzip wird freilich auch von Kobayashis Gegnern praktiziert.
Sein Fazit: Japan kann nicht nur seine Vergangenheit, sondern alle Probleme der Gegenwart, einschließlich der Bankenkrise, bewältigen, wenn sich nur alle Japaner so zur Nation bekennen würden, wie dies einst die Kamikaze-Flieger getan hätten, die ihr Leben für das Vaterland opferten.
Man spricht deutsch
Als man in den achtziger Jahren in Japan ernsthaft die japanische Vergangenheit zu diskutieren begann, nahm man sich deutsche Diskussionen zum Vorbild – vielen japanischen Intellektuellen galt Deutschland gewissermaßen als “Vergangenheitsbewältigungsmeister”. So wurde denn die Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker zum 40. Jahrestag des Kriegsendes in Japan mit großer Begeisterung aufgenommen. In vielen Kreisen studierte man sie beinahe so fleißig wie anderswo die Bibel. Diese Bereitschaft zur kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit wurde auch von Politikern unterstützt, die ihr Land aus der Isolation in Asien herausführen wollten.
Dennoch ist die Bilanz eher traurig – sehr weit ist die japanische Vergangenheitsbewältigung nicht vorangekommen – und die Richtung weist heute eher rückwärts. Es sieht leider so aus, als ob die Zahl der “Ewiggestrigen” in Japan eher zu- als abgenommen habe. Warum aber gelingt es den Japanern nicht, ihre Vergangenheit nach deutschem Beispiel zu bewältigen?
Die Antwort ist simpel. Das “deutsche Modell” ist nicht so einfach zu kopieren wie zum Beispiel der Umgang mit klassischer Musik. Dennoch kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß japanischen Befürwortern des “deutschen Modells” sich die deutsche Vergangenheitsbewältigung als eine für die “Entbräunung” der Japaner dienliche Musik darstellt.
Es klingt absurd, aber es entspricht ganz der Realität: Japaner (Journalisten, Zeithistoriker usw.) suchen in Deutschland nach der japanischen Vergangenheit. Wenn es etwa heißt, die Deutschen fahndeten nach “Kriegsverbrechern”, dann haben japanische Leser den Eindruck, das deutsche Volk setze das Nürnberger Militärtribunal der Alliierten in eigener Regie fünfzig Jahre später immer noch fort. Und im Lichte dieses Mißverständnisses sehen die Menschen in Japan – das seine an Kriegsverbrechen beteiligten Soldaten einfach laufen ließ – auch ihre Vergangenheit in Deutschland “bewältigt”. Handelt es sich dabei also um eine beispielhafte ethnozentrische Unfähigkeit, ein fremdes System zu verstehen?
Was machen umgekehrt Deutsche in Japan? Unterwegs auf ihrer Suche nach unbewältigter Vergangenheit in der japanischen Gesellschaft stoßen sie immer wieder auf “braune Japaner” oder auf “Nanking-Leugner” – viele Menschen, von denen die japanischen Kriegsgreuel in China schlichtweg abgestritten werden; Anhänger der “Auschwitz-Lüge” sind in Japan dagegen eher Ausnahmen. Ist aber mit dem, was sie in Japan als “unbewältigte Vergangenheit” erkennen, wirklich die japanische Vergangenheit gemeint oder verwechseln sie diese mit der deutschen?
Häufig wird hier übersehen, daß beide Staaten völlig unterschiedliche internationale Umfelder haben. Wie würden die asiatischen Nachbarvölker, die keine postnationalen Staaten sind, reagieren, wenn zum Beispiel ein japanischer Politiker sagen würde, der Tag der japanischen Kapitulation – der 15. August 1945 – sei ein Tag der Befreiung gewesen? Wahrscheinlich würden die Nachbarvölker ihn auslachen oder heftig protestieren, und die Japaner selbst würden ohne Ausnahme den Kopf schütteln.
Im kollektiven Gedächtnis der Deutschen bezieht sich der Begriff der jüngeren Vergangenheit wesentlich auf das “Dritte Reich”, vor allem auf den Holocaust, die Ermordung der europäischen Juden. Die japanische Vergangenheit hingegen ist eindeutig der 1945 zu Ende gegangene Krieg. Mit dieser Vergangenheit, das heißt, mit dem verlorenen Krieg schlägt sich die Gesellschaft noch heute herum. Und sie ist tatsächlich unbewältigt in dem Sinne, daß sie unreflektiert geblieben ist.
Für die Pazifisten, die nun Anhänger der deutschen Vergangenheitsbewältigung geworden sind, gilt der Krieg als das absolut Böse. Bisweilen kann man sich des Eindrucks freilich nicht erwehren, sie machten damit auch dem Weltpolizisten, der ihr Land besiegte, nachträglich moralische Vorwürfe: indem sie schlichtweg alle Kriege für böse erklären. Eine solche Deutung würde den in der Tat entlastenden Schluß nahelegen, daß ausnahmslos alle Völker böse sind.
Während des Kalten Krieges wurde von der pazifistisch gesinnten Opposition ein außenpolitisches Konzept vertreten, das eine Lähmung der parlamentarischen Demokratie in Japan herbeiführte – das Konzept der unbewaffneten Neutralität: Demnach sei der Weltfrieden dadurch zu sichern, daß nicht nur Japan, sondern alle Staaten, die USA voran, umfassend abrüsteten. Der Weltfrieden war ja in der Tat eingetreten, als Japan, das gegen den Rest der Welt Krieg geführt hatte, am 15. August 1945 kapitulierte. Sprach sich also in diesem pazifistischen Konzept das Wunschdenken aus, die USA könnten die ganze Welt befrieden, wenn sich dieser Kapitulationsakt allüberall wiederholte? Dann wäre dieser Pazifismus nichts anderes als eine imaginäre Fortsetzung des verlorenen Krieges ohne Waffen.
Man sieht, auch Pazifisten können verkappte Nationalisten sein. Außerdem wird deutlich, wie dehnbar der japanische Vergangenheitsbegriff ist. Man kann sich auch des Eindrucks nicht erwehren, als führte das Volk einen imaginären Krieg in der Vergangenheit wie in der Vorvergangenheit, in Gegenwart und Zukunft. So heißen zum Beispiel im Ausland tätige japanische Geschäftsleute “Unternehmenssoldaten”. Stagniert wegen der Bankenkrise das Wirtschaftswachstum, dann ist das “die zweite Kapitulation”. Auch sind viele Japaner davon überzeugt, daß der Zweite Weltkrieg bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts begonnen habe, als die europäischen Imperialisten in Asien erschienen.
Innere Kapitulation
Die Vergangenheit bestimmt also weiter die Gegenwart ? als wäre sie der Büchse einer japanischen Pandora entwichen, und man versteht, warum in Japan der Umgang mit der Vergangenheit, wie man ihn in Deutschland pflegt, so positiv bewertet wird. Dabei wird jedoch gern übersehen, daß dieses bewunderte System der deutschen Vergangenheitsbewältigung vor allem auf zwei Prinzipien basiert, die der japanischen Kultur und Gesellschaft unbekannt sind und die für eine Stabilität des nationalen Selbstbewußtseins in Deutschland sorgen.
Das erste Prinzip ist das der Individualisierung von Schuld und Verantwortung, das die Kollektivschuldthese, die das deutsche Volk in eine Art Pauschalhaftung nahm, erfolgreich relativierte. Dieses Prinzip verdankt sich vor allem zwei Elementen, die es in Japan nicht gibt: Das eine war der völlige Zusammenbruch der staatlichen Struktur des Deutschen Reichs, das Erlebnis eines finis Germaniae, das in der inneren Kapitulation der einzelnen Individuen seine Entsprechung fand. Das zweite Moment war eine in Deutschland noch bestehende religiöse Prägung der Gesellschaft, die eine individuelle Zuordnung von Schuld und Verantwortung ermöglichte.
Das zweite, in Japan unbekannte Prinzip war eine strikte Trennung zwischen dem “sauberen” Krieg und den Verbrechen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Diese -nicht zuletzt durch die “Wehrmachtsausstellung” – nachdrücklich in Frage gestellte Unterscheidung fand lange Zeit ihren Niederschlag in Politikerreden, in denen das Bild des “tapferen Frontsoldaten”, der sich für das Wohl der Heimat opferte, mit dem der Nazi-Verbrecher konfrontiert wurde, die hinter der Front sengten und mordeten. Diese “saubere” Trennung, die zunächst in den Biographien der Frontsoldaten für Sinnstiftung sorgte, wurde zum Prinzip gehärtet, als Deutschland im Kalten Krieg in das atlantische Verteidigungsbündnis eingegliedert wurde.
Beide Prinzipien sollten dazu beitragen, Verantwortung und Schuld für die Vergangenheit individuell zu begrenzen und so zu verhindern, daß die Vergangenheit zu einer nationalen Angelegenheit wurde. Diese Voraussetzungen waren in Japan jedoch nicht gegeben, denn der totale Krieg, auf den sich der japanische Vergangenheitsbegriff konzentriert, ist im kollektiven Gedächtnis des Landes eine ganz und gar nationale Sache.
Durch die Betonung der “Erinnerung” ist man in Deutschland jetzt bestrebt, die Geltung dieser Prinzipien langsam abzuschwächen. Daß dies möglich ist, spricht für eine hohe Flexibilität des deutschen Systems der Vergangenheitsbewältigung, das sich dem Generationswechsel ebenso geschmeidig anpaßt wie den seit Ende des Kalten Kriegs grundlegend veränderten außenpolitischen Anforderungen, bei denen insbesondere die Belange der Menschenrechte eine immer größere Rolle spielen. Der Umgang der Deutschen mit ihrer Vergangenheit stellt sich so als ein kulturell bedingtes und historisch gewachsenes System dar, das nicht mit der Partitur einer “Entbräunungsserenade” verwechselt werden darf, die japanische Musikanten einfach nachspielen könnten.
TAN MINOGUCHI
SIND DIE JUNGEN MÄNNER, die in dieser verzweifelten Situation auf den Tod gefaßt waren, wahnsinnig gewesen, wie es uns später gesagt worden ist? – Im Comic Senso-ron von Yosinori Kobayashi ist das die Frage.
Abb.: Verlag
Feuilleton 12.07.1999