Hiroshima liegt auf dem Mars

Aus: Süddeutsche Zeitung, Feuilleton 22.10.99

南ドイツ新聞文芸欄、1999年10月22日、17頁

 

Hiroshima liegt auf dem Mars

Warum ist das japanische Volk so auf die Kernenergie fixiert?

Die Japaner tanzen auf einem Vulkan. Immer munter, immer weiter. Dieser Eindruck stellt sich ein, wenn man nach der Beinahe-Katastrophe in Tokai-Mura hören muss, dass die japanische Regierung an ihrem Atomprogramm festhalten will. So werden zusätzlich zu den vorhandenen 51 Atommeilern noch 20 gebaut werden. Ausserdem wird auch an der Brütertechnik herumgewurstelt, um “die vom Rest der Welt zu Unrecht im Stich gelassene Technologie zum Wohle der Menschheit in das kommende Jahrtausend hinüber zu retten”. Man muss sich wundern, wie ausgerechnet das Volk, das den Abwurf von zwei Atombomben erfahren hat, mit so vielen Atomkraftwerken leben kann? Tatsächlich stellt sich Japanern die Frage nach den Gefahren der Kernenergie nur selten, weil sie nie auf die Idee kämen, Atomkraftwerke mit Atombomben in Verbindung zu bringen. Hier liegt offensichtlich eine Denkblockade vor, sich die Dimensionen eines nuklearen Unfalls auszumalen, weswegen die meisten Japaner ein atomarer GAU so wenig schreckt, wie die Störung in einer Müllverbrennungsanlage.

Denkblockade

Liest man in japanischen Zeitungen über die Beinahe-Katastrophe in Tokai-Mura, fällt auf, dass jeder Hinweis auf Hiroshima und Nagasaki vermieden wird. Statt dessen findet man den Ausdruck “Kritikalitätsunfall”. Leser ohne physikalische Fachkenntnisse werden ihn nicht verstehen. Dabei hätte die unkontrollierte, von bläulichem Licht illuminierte Kernspaltung innerhalb des Reaktors durchaus Folgen haben können, die den Schäden nach einem Atombomben-Abwurf vergleichbar sind: Strahlentod, eine kontaminierte Erdoberfläche, Leukämie usw. Die verharmlosende Darstellung in den Medien ist Ausdruck jener Denkblockade, weshalb man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, dass für Japan Hiroshima auf dem Mars liegt.

Die Bilder, die die japanische Erinnerungskultur über Hiroshima aufbewahrt hat, haben im Bewußtsein der Japaner nichts mit den modernen Atomkraftwerken zu tun. Diese Bilder, die Angst und Furcht einflößen, zeigen Menschen mit herabtropfenden Hautfetzen oder Opfer mit “Kelojd” genannten Entstellungen. Sie zielten ausdrücklich darauf, “die Hölle auf Erden” darzustellen. Denn Hiroshima soll nach der Logik dieser Erinnerungskultur eben wegen der dort stattgefundenen “Hölle” seine “Friedenskraft” in die ganze Welt ausstrahlen. So glaubten in der kältesten Zeit des kalten Krieges viele Japaner daran, dass die Politiker der Großmächte, allen voran die amerikanischen, mit gereinigtem Herz und voller Reue ihre Atombomben abschaffen würden, wenn sie Hiroshima betreten hätten. Verdankt man es also dieser heiligen “Friedenskraft”, dass Hiroshima jetzt auf dem Mars gelandet ist?

Nachdem Japan 1951 seine Souveränität wieder gewonnen hatte, erschienen zahlreiche Bücher zu dem von der amerikanischen Besatzungsmacht geächteten Thema Atombombenopfer. Im Vorwort eines damaligen Bestsellers, “Kinder in Hiroshima”, schreibt der Herausgeber: “Ich glaube nicht, dass das Sterben von 247 000 Menschen nur die Explosion eines launischen Knallers war. Ich bin fest davon überzeugt, dass es uns mit Hilfe unserer moralischen Kraft gelingen wird, nur die guten Eigenschaften der Atomkraft zur Geltung zu bringen, indem wir den Weg zur friedlichen Nutzung der Atomenergie beschreiten.”

Nicht nur diese Stelle, sondern auch viele Diskurse über Hiroshima belegen, dass diese Erinnerungskultur eigentlich eine Variante des japanischen Totenkults ist, bei dem es sich um die nachträgliche Sinnstiftung des sonst sinnlosen Atomtodes (= “Explosion eines launischen Knallers”) handelt. Für unseren energiepolitischen Kontext ist es daher wichtig festzuhalten, dass man es in Japan jetzt nicht mit gewöhnlichen alten “Kerntechnikfreaks” zu tun hat, die es in allen Industriestaaten gibt, sondern mit einer breiten Befürworter-Generation, die in ihren jungen Jahren mit dieser Sinngebung des sinnlosen Atomtodes zu tun hatte.

Doch gibt es in den für die Energiepolitik zuständigen Ministerien in Tokio auch Beamte, die der offiziellen Atompolitik skeptisch gegenüber stehen. Vor allem junge Japaner glauben nicht mehr an die Zukunft des Atomstroms. Im Bereich Kernforschung spricht man schon von Nachwuchsmangel. Auch in den Medien melden sich kritische Stimmen. Es gibt Bürgerbewegungen, die sich gegen den Bau neuer Atomkraftwerke wehren. Selbst in der Elektrizitätsbranche wird hinter vorgehaltener Hand über horrende Liefer-Preise von Brennelementen gewitzelt, die eines Tages von der japanischen Wiederaufarbeitungsanlage kommen sollen.

Warum bewegt sich dann nichts? Tatsächlich gibt es noch eine weitere Denkblockade, die sich um das nationale Selbstverständnis herum etabliert hat. Diese Blockade betrifft einen energiepolitischen Gesichtspunkt, der in Deutschland verschwunden zu sein scheint. Dabei handelt es sich um den in Japan “Energy Security” genannten Komplex, mit dem eine gute Energiepolitik eine stabile Energieversorgung gewährleisten soll.

Inselmentalität

Die Importquote auf dem Energiesektor ist in Japan sehr hoch. Das erweckt den Eindruck, dass die Energieversorgung “auf wackligen Füßen steht”. Aber ist nicht gerade der reale Boden sehr “wackelig”, auf dem viele Atomkraftwerke stehen, da das ganze Inselreich Erdbeben gefährdet ist? Es kann sein, dass viele Herkunftsländer, von denen Japan Erdöl bezieht, auf politisch instabilen Gebieten liegen. Doch wie wahrscheinlich ist es, dass in allen Öl-Herkunftsländern Kriege ausbrechen und Japan “keinen Tropfen Öl” mehrt bekommt? Dewnnoch denken viele Japaner eben dies; für sie liegt Japan gewissermassen außerhalb der vorhanden Staatenwelt. Das hat mit “Inselmentalität” zu tun, die von den Japanern selbst gerne kritisiert, aber gleichzeitig auch als Beleg dafür gilt, dass es nicht anders geht.

Wenn das Argument: Sicherung der Energieversorgung in einer Diskussion aufkommt, erscheinen AKW-Gegner darum in den Augen der Öffentlichkeit schnell als Utopisten, die Japan als Industrienation in den Ruin treiben wollen. Wo kommt das her? Wenn es um die Selbst-Definition eines Volkes als Industrienation geht, verhalten sich die Deutschen nicht sehr viel anders. Warum aber hat das Abhängigkeits-Argument in Japan eine so starke Durchsetzungskraft? Hat das mit Emotionen (Ängsten, Sehnsüchten usw.) zu tun, die im kollektiven Gedächtnis dieses Volkes gespeichert sind? Die japanische Angst, in totale Öl-Abhängigkeit zu geraten, erscheint ja auch deswegen so absurd, weil die Importabhängigkeit bei Nahrungsmitteln genau so hoch ist. Diese kümmert aber nur wenige.

Eine Erklärung dieser Diskrepanz liefert die erste Ölkrise von 1973/74. Von vielen Japanern wird es so dargestellt, als habe man diese Krise, gerade weil man ihre Bedeutung erkannt und entsprechend reagiert habe, als Sprungbrett für den späteren wirtschaftlichen Erfolg nutzen können. Tatsächlich fürchteten viele Japaner damals, kein Erdöl mehr zu bekommen und so ihren bescheidenen Wohlstand zu verlieren. Ihre teils übertriebene Angst, ja Panik läßt sich damit erklären, dass sich die Japaner 1973/74 an das 1941 von den USA über ihr Land verhängte Wirtschaftsembargo erinnerten. Dass der Ölhahn damals von den Amerikanern zugedreht wurde, sei nach einem in Japan gängigen Geschichtsverständnis der Anfang vom Ende gewesen. Aus Angst davor, dass sich seine Ölreserven bald erschöpfen könnten, habe Japan, wie “die von der Katze bedrohte Maus” mit dem Angriff auf Pearl Harbor geantwortet, der dann allerdings tatsächlich in die nationale Katastrophe einmündete. So gesehen ist die nun imaginierte Drosselung der Erdöllieferungen mit negativen Erfahrungen verbunden, die sich hartnäckig im kollektiven Gedächtnis halten und eine reflexartige Angst auslösen. Dabei gerät das zu den jeweiligen Zeitpunkten (1941, 1973/74 und jetzt) völlig unterschiedliche, internationale Umfeld Japans völlig aus dem Gesichtsfeld. Dass die Erzählung von der erfolgreichen Überwindung der Ölkrise 1973/74 diese nationale Angststruktur eher befestigte, zeigt sich auch daran, dass der Aspekt der Sicherung der Energieversorgung bei jeder atompolitischen Diskussion wie eine Trumpfkarte ausgespielt wird. Das japanische Atomprogramm ist ein Werk tüchtiger Elitebeamter. Es ist im Geist einer Vätergeneration geschrieben worden, die von einem autark funktionierenden, asiatischen Wirtschaftsblock träumte. Doch der damalige großasiatische Lebensraum ist jetzt auf eine “Aladin’s Wunder-Lampe” genannte Brütertechnik zusammengeschrumpft.

TAN MINOGUCHI